Eintrag-Details: Europa - geeint in Vielfalt. Großbritannien - vielfältig uneinig
Philipp am 29.11.07 | 19:27:11 GMT+1 Gedankenblasen
Europa - geeint in Vielfalt. Großbritannien - vielfältig uneinig

Ich bin Europäer. Jedenfalls habe ich neben meiner deutschen Staatsbürgerschaft auch eine Europäische. Das ist auch in meinem Reisepass vermerkt. Ich bin einer von 490 Millionen EU-Bürgern. Europa, oder genauer gesagt die Europäische Union, besteht aus 27 Nationalstaaten, spricht 23 Amtssprachen und erstreckt sich über eine Fläche von 4.324.782 Quadratkilometer. 60 Millionen – oder 12% - meiner europäischen Mitbürger wohnen im Vereinigten Königreich Großbritannien. So ganz glücklich sind sie mit ihrer europäischen Staatsbürgerschaft aber nicht.

Die britische Perspektive auf Europa ist sehr ambivalent und zugleich präsenter im Alltag als in Deutschland. Meiner Erfahrung nach spielen Europa oder die Geschicke und die Zukunft der Europäischen Union im deutschen Alltag kaum eine Rolle. Europa ist den meisten Deutschen irgendwie gleichgültig. Europa findet im Alltag der Deutschen schlichtweg nicht statt. Anders in Großbritannien. Seit der Gründung der Europäischen Union haben die Briten eine Hassliebe entwickelt. Man trifft gleichermaßen auf erbitterte Europakritiker als auch auf euphorische Europabefürworter.

Die innereuropäischen Konflikt- und Trennlinien sind vielfältig, vielseitig und lassen sich an diversen Beispielen illustrieren. Da wären zum Einen die Haltung zu Beginn des Irakkriegs 2003 zu nennen, als sich die Interessen der britischen Regierung diametral von denen der übrigen großen Staaten der EU unterschieden. Zum Anderen tat sich die britische Regierung auch kürzlich noch schwer dem Europavertrag zuzustimmen und meidet eine Volkabstimmung hierüber. Die britische Einstellung zu Europa ist historisch gesehen nichts Neues. Seit der Gründung der ersten europäischen Institutionen unterschieden sich die Zielvorstellungen Großbritanniens, Deutschlands und Frankreichs. Großbritannien sah in dem europäischen Projekt eine wirtschaftliche Einigung in Form des europäischen Binnenmarktes. Die deutsche (und auch die französische) Vorstellung von Europa ging schon seit jeher über die wirtschaftliche Komponente hinaus. Diese unterschiedlichen Vorstellungen vom Sinn und Zweck Europas bestehen auch heute noch. In einer Meinungsumfrage in Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland und Großbritannien gaben die Befragten ihre Vorstellung und Erwartungen der Europäischen Union an: thematische Behandlung der Themen Soziales, Beschäftigungspolitik und Terrorismusbekämpfung. In den Themen besteht Einigkeit, allerdings wird ihre Relevanz ganz unterschiedlich eingestuft. Die Befragten in Großbritannien messen der Terrorismusbekämpfung den höchsten Stellenwert zu – alle anderen Länder nennen zuerst soziale Aspekte. Zwar darf man an dieser Stelle die Auswirkungen der U-Bahn Anschläge im Juli 2005 in London nicht außer Acht lassen, nichts desto trotz ist diese Priorisierung bemerkenswert.

Hinsichtlich des Zieles einer mehrsprachlichen Europäischen Union fällt Großbritannien ebenfalls stark aus dem Rahmen. Im Vereinigten Königreich sprechen gerade einmal 38 Prozent eine Fremdsprache – in den restlichen 26 Mitgliedstaaten liegt der zusammengenommene Durchschnitt bei immerhin 56 Prozent; 26 Prozent können sogar zwei Fremdsprachen gesprächssicher sprechen. Darüber hinaus hält das Inselreich krampfhaft an seiner eigenen Währung fest, obwohl der Euro entgegen aller Skepsis immer stärker und stabiler wird. Für das Konzept einer gemeinsamen Europäischen Verfassung sprachen sich Ende August gerade einmal 43 Prozent der Briten aus – und bildeten auch mit dieser Meinung das Schlusslicht unter allen anderen EU-Mitgliedsländern. Insgesamt sprachen sich 66% der Befragten in der europäischen Union für eine gemeinsame Verfassung aus – und da ist die geringe Zustimmung der Briten mit eingerechnet.

Die Gründe für die ambivalente, distanzierte und oftmals skeptische Haltung der Briten sind sicherlich vielseitig. Der britische EU Handelskommissar Peter Mandelson sagte vor Kurzem bei einer Podiumsdiskussion an meiner Universität „to outsiders, it looks as if we decided to be in Europe and then started a thirty year debate on whether we really wanted to be”. Wenn ich vorher festgestellt habe, dass Europa im deutschen Alltag nicht stattfindet muss ich an dieser Stelle festhalten, dass die Bedeutung Europas in den britischen Köpfen noch nicht angekommen ist. Beispielsweise meinte eine gute Freundin aus Schottland neulich in einer Diskussion zu meinem französischen Mitbewohner und mir „...you Europeans are different...“, um ihren Standpunkt von unserem zu unterscheiden.

Obwohl regelmäßig das Argument vorgebracht wird, Großbritannien wäre ohne EU-Mitgliedschaft besser dran, kann diese Frage nicht ernsthaft diskutiert werden. Großbritannien hat keine Alternative zur Europäischen Union. In einem Zeitalter globaler Herausforderungen muss Europa weiter zusammenwachsen, um diesen Herausforderungen begegnen zu können und sie zu beeinflussen. In Europa denken wir regelmäßig in Größenverhältnissen, sprechen von großen und kleinen EU-Staaten. Betrachtet man dies aber aus Washington, Peking, Moskau oder Neu Delhi ist Größe relativ und alle Staaten erscheinen eher klein. Gegenüber einer Milliarde Indern, einer Milliarde Chinesen und weiteren 300 Millionen Amerikanern können wir uns nur als Team aus fast 500 Millionen Gehör verschaffen. Die Frage ist nicht, welchen Herausforderungen wir global gegenüber stehen, sondern welche Antworten Europa darauf hat. Für diese Antworten bauchen wir auch ein starkes Großbritannien – das hoffentlich bald die Bedeutung Europas vollständig begreift.

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Der Text erscheint als Beitrag im Jahrbuch der YFU Landesgruppe Westfalen mit dem Sonderthema "ein starkes Stück Europa". Vielen Dank an Mara und Basti für das konstruktive Feedback.


Kommentare:

Kommentar von: Jan [Mitglied]
Hey, mir fällt gerade auf, der Titel deines Beitrags ist ja beinahe luhmannesk. Im Sinne von Eiheit in Differenz...
Permalink 01.12.07 @ 23:36

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Philipp